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Nebenwirkung

Nebenwirkung

von Key

Es regnet sehr stark. Überall sehe ich kleine und große Pfützen. In einer Wasserlache springt ein kleiner Spatz herum. Ich stehe am Rand der Pfütze und beobachte den kleinen Vogel. Auf einem Ast sitzt ein anderer braungefiederter Spatz und zwitschert laut. Das ist bestimmt die Spatzen mama denke ich. Der kleine Spatz schaut nach oben zu dem anderen Spatz. Jetzt hüpft er aus der Pfütze. Er schüttelt sich das Wasser aus den Federn. Im nächsten Moment fliegt das Spätzchen zu seiner Mama auf den Baumast. Gemeinsam fliegen sie hoch in die Luft. Die schweren Regenwolken lösen sich in nichts auf. Es regnet nicht weiter. Endlich zeigt sich die Sonne.

Für mich wird es auch Zeit weiterzugehen. Ich bin auf dem Weg zur Apotheke. Der Arzt hat mir gestern ein Rezept gegeben. Für das Rezept bekomme ich vom Apotheker die Medizin die der Arzt aufgeschrieben hat. Der Apotheker begrüßt mich freundlich. Der Apotheker heißt Alfred Pille. Er fragt mich was er für mich tun kann. Ich gebe ihm das Rezept. Herr Pille greift in das hohe Regal. Er nimmt eine Packung raus. Herr Pille gibt mir das Arzneimittel über den Ladentisch. In der Schachtel ist die Gebrauchsanweisung.

„Sie müssen den Beipackzettel unbedingt lesen. Erst danach nehmen sie das Medikament ein. Jetzt quatscht das Geißeltier in mein Öhrchen. Höre gut zu was der Apotheker sagt mein liebes Analphabetlein. Sonst kriegste vielleicht Nebenwirkungen von der Medizin.“

— Key

Bauchschmerzen oder Pickel an den Beinen. Manchmal kriegt man noch gemeinere Nebenwirkungen zu spüren flüstert das Geißeltier aufgeregt in mein Ohrchen. Lass es gut sein. Geißel du machst mir Angst. Hör mal jetzt auf. Nee los frag den Apothekenmann. Ey trau dich das ist wichtig für dich. Für die Frage krame ich meinen ganzen Mut zusammen. Leise sag ich zu Hernn Pille das ich nicht lesen kann. Er lacht gemein und sagt sehr laut ich kann auch nicht lesen. Mir ist dieser Augenblick furchtbar peinlich. Vom Ladentisch grabsche ich die Medizinpackung und renne aus der Apotheke.

„Herr Pille schüttelt den Kopf. Gibt es so dumme Menschen fragt er die Kunden. Warum hat sie nicht lesen gelernt. Sowas gibt`s nicht in unser Computerländle. Alle gehen in die Lernfabrik.“

— Key

Im rausrennen habe ich alles gehört. Ich bin erschüttert und traurig. Herr Pille bedient den nächsten Kunden. Hab dich nicht so meint das Geißeltier ärgerlich. Der Mann ist Gefühlskalt. Warum rennste so panisch weg. Weil ich mich sehr schäme. Warum hackt Geißi hartnäckig nach. Ich antworte nicht.

Zuhause nehme ich den großen Löffel aus der Schublade. Den Beipackzettel lasse ich in der Packung. Die Medizin tropft rasch aus der Flasche auf den Löffel. Bestimmt mache ich das richtig. Mama hat das auch immer so gemacht die Medizin so auf den Löffel getropft meine ich. Das Medikament schmeckt bitter. Nach dem Mittagessen tropfe ich wieder reichlich Tropfen aus der Flasche auf den Löffel. Nach ein paar Minütchen habe ich Fieber. Am ganzen Körper sind knallrote Flecken. Im Spiegel erkenne ich mich fast gar nicht. Der Schreck sitzt tief. Au Backe. Wie siehste bloß aus kreischt das Geißeltier entsetzt. Los. Hopp. Hopp. Ruf den Doktor an. Um Gottes Willen. Du hast Nebenwirkungen. Weil du nicht weißt wieviel Tropfen du nehmen musst. Das kann für dich gefährlich werden brüllt mich Geißi an. Los. Ruf den Arzt an. Das Geißeltier ist jetzt richtig in Fahrt. Ich bin müde und schlapp.

Ich schaffe es den Arzt anzurufen. Ich komme sofort zu Ihnen ruft der Arzt ins Telefon. Lassen Sie die Wohnungstür angelehnt damit ich in Ihre Wohnung komme. Ja das mache ich. Die Tür habe ich noch aufgemacht. Jetzt ists mir schwarz vor den Augen. Aus der Ferne höre ich das Geißeltierchen. Hey mach die Augen auf schreit es ängstlich. Du darfst nicht einschlafen. Ich will meine ruhe haben. Auf einmal spricht eine kräftige Stimme zu mir. Machen Sie die Augen auf. Sehen Sie mich an. Irgendwer reißt an mir. Ich kann nicht reagieren. Plötzlich sticht mich was in den Arm. Das tut sehr weh. Aua. Mann. O. Mann. Schön das Sie wieder ansprechbar sind sagt der Arzt. Haben Sie die Medizin aus der Packung eingenommen. Ja. Zwei große volle Löffel.

„Warum haben Sie die Gebrauchsanweisung nicht gelesen. Weil ich nie lesen gelernt habe.“

— Key

Alle machen sich lustig über mich. Keiner sieht meine großen Kullertränen in mir. Weiß der Apotheker Pille das sie nicht lesen können. Ja. Na der kriegt von mir was zu hören schimpft der Arzt. Herrn Pille schicke ich zur sensibilisierungsschulung damit er künftig weiß wie er mit einem Wortblinden umzugehen hat. Der Betroffene muss sich nicht schämen. Das soll getrost die Umwelt tun.

Der Arzt ruft Herrn Pille an und schimpft ihn schlimm aus. Abends geht es mir viel besser. Das Fieber und die knallroten Pickel sind verschwunden. Die Bauchschmerzen auch. Am späten Abend besucht mich der Apotheker Herr Pille. Er drückt mir einen großen Blumenstrauß in die Hand und murmelt leise Entschuldigung. Das hätte mir nicht passieren dürfen. Wenn Sie mögen dann helfe ich Ihnen das Lesen zu üben. Jeden Tag eine Stunde. Ich übe mit Ihnen auch die Medikamenteninformation für den Patient zu lesen und zu verstehen. Vielen Dank sage ich zu Herrn Pille noch ganz ergriffen. Herr Pille sagt erleichtert gleich Morgen lernen wir miteinander und voneinander. Hand drauf.

Na also neckt mich das Geißeltierchen. Es war ein aufregender Tag. Lass uns nun zur Ruhe kommen liebes Geißeltierchen. O.K. mein Analphabetchen. Morgen fange ich mit den Leseübungen an. Das wird mir bestimmt viel Freude machen. Versprochen. Nun ist die Geschichte zu Ende.

Als Analphabet wird jemand bezeichnet, der nicht lesen und schreiben kann. In Deutschland ist dies sehr selten. Viele Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, können meist Buchstaben und Wörter lesen, haben aber Probleme mit Texten. Auch weil das Wort „Analphabet“ ausgrenzend ist, sprechen wir besser von „gering literalisierten Personen“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

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