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Analphabetismus in DeutschlandTabuisiert und unterschätzt: Lese- und Schreibprobleme bei Erwachsenen

In Deutschland können 12 % der Deutsch sprechenden Erwachsenen höchstens einfache, kurze Sätze lesen und schreiben. Das stellt ein großes Problem nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für unsere Gesellschaft dar! Immer noch wird das Thema tabuisiert und ist von Vorurteilen geprägt. Für viele Betroffene bedeutet das Scham und die permanente Angst, „aufzufliegen“.

Jede:r 8. Erwachsene in Deutschland hat Probleme mit dem Lesen und Schreiben.

Angesichts dieser hohen Zahlen fragen sich viele: Wie kann das heute noch sein? Wir haben doch eine Schulpflicht!
Trotzdem gibt es 6,2 Millionen deutschsprachige Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, obwohl sie zur Schule gegangen sind. Verschiedene Problemlagen und Ursachen treffen häufig zusammen, beispielsweise negative Erfahrungen mit Bildungseinrichtungen und mangelnde Förderung durch das Elternhaus, so dass das Lesen und Schreiben vielleicht mühsam gelernt, nach Beendigung der Schule aber nicht angewendet und schnell wieder verlernt wurde. Auch die Abgrenzung zur Lese- und Rechtschreibschwäche und zur Legasthenie ist schwierig. Fest steht, dass sogenannter Analphabetismus nichts mit mangelnder Intelligenz oder Faulheit zu tun hat!

„Ich muss immer meine Adresse vom Personalausweis abschreiben, wenn ich Formulare ausfülle. Das ist mir peinlich.“

Was genau bedeutet Analphabetismus heute in Deutschland?

Da es sehr selten ist, dass eine Person hierzulande gar keine Lese- und Schreibkenntnisse hat, wurde und wird oft von ‚funktionalem Analphabetismus gesprochen.

Dabei unterscheidet man verschiedene Stufen:

  • Alpha-Level 1 entspricht der Buchstabenebene, d. h. eine Person kann nur Buchstaben lesen. Dieser Fall ist in Deutschland sehr selten.
  • Alpha-Level 2 entspricht der Wortebene, d. h. eine Person kann einzelne Wörter lesen oder schreiben, Sätze jedoch nicht. Oft werden Wörter Buchstabe für Buchstabe zusammengesetzt.
  • Alpha-Level 3 entspricht der Satzebene, d. h. eine Person kann einzelne Sätze lesen und schreiben, hat aber noch große Schwierigkeiten, zusammenhängende Texte sinnentnehmend zu lesen und zu verstehen.

Kompetenzen auf dem Alpha-Level 4 sind noch durch eine fehlerhafte Rechtschreibung auch bei gebräuchlichen Wörtern charakterisiert, was ungefähr einem Lernstand der Grundschulzeit entspricht. Das bedeutet, dass 32,6 % (= Alpha-Level 1–4) der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland das Lesen und Schreiben nur ungenügend beherrschen.

Da der Begriff ‚Analphabetismus ein Defizit beschreibt und somit stigmatisierend und ausgrenzend verstanden werden kann, spricht man inzwischen von ‚geringer Literalität‘. Als gering literalisiert gelten Menschen mit Kompetenzen der Alpha-Level 1–3.
Mehr als die Hälfte dieser Personen hat Deutsch als Erstsprache. Menschen, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, wie beispielsweise Geflüchtete, werden in der zugrundeliegenden wissenschaftlichen Studie nicht berücksichtigt.

Was bedeuten die Lese- und Schreibschwierigkeiten für die Betroffenen?

© Fotos: Jesús Cabrera Hernández, mehr Infos zur Fotoausstellung „Steht doch da“

Nicht gut lesen, schreiben oder rechnen zu können stellt betroffene Menschen in unserer stark schriftbasierten Gesellschaft vor große Hürden. Sie sind nicht nur in der selbständigen Bewältigung ihres Alltags eingeschränkt, sondern oft auch von gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung ausgeschlossen. Schwierigkeiten treten zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche auf, beim Lesen von Arbeits- oder Gebrauchsanleitungen, beim Ausfüllen von Anträgen oder Arztformularen, bei Vertragsabschlüssen u. v. m.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem Hauptbahnhof und möchten von Berlin nach München reisen. Die Ansagen sind schwer verständlich und Sie wissen nicht, auf welchem Gleis Ihr Zug abfährt. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Sie geraten in Stress. Was würden Sie tun? Wie und wo finden Sie Ihren Zug? Wen können Sie ansprechen?

Wie hilfreich wäre es da, auf eine verständnisvolle Person zu treffen, die Ihnen das richtige Gleis zeigt und nicht einfach sagt „Steht doch da“.

Oder stellen Sie sich vor, Sie möchten in einem Restaurant essen gehen, können aber nicht die umfangreiche Speisekarte lesen. Was bestellen Sie, damit nicht auffliegt, dass Sie nicht gut lesen und schreiben können? Vermutlich Schnitzel und Pommes, weil es das in fast jedem Restaurant gibt. Oder Sie deuten auf den Nachbartisch und sagen, dass Sie das gleiche möchten.

Wenn es zusätzlich um wichtige oder sogar existenzielle Fragen geht, beispielsweise im Kontakt mit Ämtern und Behörden, ist gut nachvollziehbar, dass sich Stress und Angst um ein Vielfaches erhöhen können:

„Ämter sind mein größtes Grauen. Man verzweifelt. Das macht ja auch krank. Es entsteht Unruhe und Angst. Ich habe meinen Briefkasten nicht mehr geöffnet, hatte Panik, bin nervlich zusammengebrochen über einen sehr, sehr langen Zeitraum. Diese Masse an schriftlicher Information hat mich überfordert.“

Stigmatisieren oder Teilhabe ermöglichen – unsere Rolle als Gesellschaft

Oft werden Betroffene ungläubig beäugt, belächelt oder für dumm erklärt. Viele Menschen mit Lese- und Schreibproblemen haben negative Erfahrungen in der Schule, in der Familie, im Alltag oder im Beruf gemacht. Dadurch leidet ihr Selbstbild und sie trauen sich selbst nichts mehr zu. Lebensbestimmend werden die Angst vor Versagen oder Diskriminierung, Mutlosigkeit und ein geringes Selbstwertgefühl. Diese Situation kann krank machen und – im Zusammenspiel zum Beispiel mit Arbeitslosigkeit und Schulden – immer weiter in eine Abwärtsspirale führen!

Um Teilhabe für alle zu ermöglichen und Selbständigkeit und Selbstwertgefühl zu stärken, kommt der Grundbildung eine wichtige Rolle zu.
Mit Grundbildung sind grundlegende Fähigkeiten gemeint, die man in unserer modernen Gesellschaft im Alltag braucht: Lesen, Schreiben und Rechnen, aber zum Beispiel auch der Umgang mit Medien und Technik.

Mangelnde Grundbildung ist kein Nischenproblem, wie die Zahlen belegen! Unsere Gesellschaft verändert sich schnell, die Technologie schreitet voran und die Welt wird immer globaler. Hier besteht dringend Handlungsbedarf, denn Herausforderungen wie Digitalisierung und Fachkräftemangel aber auch (und nicht zuletzt) unser Selbstverständnis als demokratische und integrative Gesellschaft verlangen von uns, allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Niemand soll ausgeschlossen werden.

Deshalb ist und bleibt Grundbildung relevant. Wer am Leben teilnehmen und den Wandel unserer Gesellschaft mitgestalten möchte, muss über die notwendigen Grundbildungs-Kompetenzen verfügen. Auf der anderen Seite müssen wir als Gesellschaft den Zugang zu Bildung vereinfachen und gerechter gestalten. Ein erster Schritt ist Aufklärung zum Thema Analphabetismus. Damit werden Tabus und Vorurteile beseitigt und ein Klima geschaffen, in dem Betroffene sich öffnen können und verstanden fühlen. Lernen sollte eine positive Erfahrung für sie sein.
Außerdem können wir Barrieren reduzieren: Zu viele schriftsprachliche Informationen sind – selbst für ‚normal Lesende‘ – unnötig kompliziert und stellen Hürden dar, die wir ohne großen Aufwand abbauen können.

Im 19. Jahrhundert galt eine Person in Deutschland als alphabetisiert, wenn sie ihren Namen schreiben konnte. Nach dieser Definition war Analphabetismus quasi nicht mehr existent! Menschen, die dennoch Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatten, verschwanden aus der Statistik. Das Thema spielte in der Öffentlichkeit und im Bildungswesen keine Rolle mehr.

Die ‚Wiederentdeckung des Analphabetismus kam in den 1970er Jahren in den Gang: Unter anderem unter Strafgefangenen wurde ein unvermutet hoher Anteil nicht genügend alphabetisierter Personen ‚entdeckt‘. Anfangs wurde die Zahl der von Analphabetismus Betroffenen noch als Einzelschicksale heruntergespielt, doch immer mehr Fälle wurden bekannt. Erste Lese- und Schreibkurse für Erwachsene wurden eingerichtet, etwa an den Volkshochschulen, wobei sich viele dieser Kurse vorwiegend an Zugewanderte richteten.

In den Folgejahren fand das Problem mehr Aufmerksamkeit. Vereine wie Lesen und Schreiben e. V., der Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e. V. (AOB) und der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V. wurden gegründet und nahmen sich des Themas und der Betroffenen an.

Im Jahr 2000 wies die 1. PISA-Studie schwere Defizite in den Lesekompetenzen bei deutschen Schüler:innen nach. Von 2003–2012 rief die UNESCO die Weltalphabetisierungsdekade aus, deren Ziele auch für Deutschland ihre Berechtigung hatten. Mit der „leo. – Level-One Studie“ der Universität Hamburg lagen 2011 erstmals Daten zum Umfang geringer Literalität unter Erwachsenen in Deutschland vor. 2019 wurde die Fortsetzung „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“ veröffentlicht.

Mit der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse bekam das Thema endlich größere Aufmerksamkeit. Einer Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland von 2012–2016 folgte schließlich die AlphaDekade 2016–2026 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Seither wurden von Bund und Ländern viele Projekte zur Grundbildung und Alphabetisierung Erwachsener gefördert. Bundesweit entstanden Grundbildungszentren (GBZ), 2014 auch das Grund-Bildungs-Zentrum Berlin.

Zwar gibt es inzwischen viele Kurse und Angebote für gering literalisierte Erwachsene in den unterschiedlichsten Formaten und Einrichtungen, jedoch werden diese von viel zu wenigen Betroffenen in Anspruch genommen. Ein weiterer Grund dafür, dass wir uns für mehr Aufklärung und Enttabuisierung des Themas und für mehr Hürdenabbau einsetzen!

Verstehen und unterstützen – Grundbildung und Alphabetisierung in Berlin

Als Berliner Expert:innen für Grundbildung und Alphabetisierung bringen wir das Thema in unserer Stadt voran. Dabei geht es uns nicht um die Skandalisierung eines lange übersehenen Problems, sondern um Aufklärung, Verständnis und Enttabuisierung. Ein Tabu ist überwindbar und ein Problem ist lösbar, wenn man es versteht.

Dafür bieten wir als Kompetenzzentrum Orientierung, allgemeine Informationen und konkrete Lösungen: für Betroffene in Berlin, für Partner:innen in der Stadt und in den Bezirken, für Politik und Verwaltung, für Unternehmen und Bildungseinrichtungen und für alle, die mehr wissen möchten oder aktiv werden wollen.

Informieren Sie sich weiter! Entdecken Sie unsere Angebote und Ihre eigenen Unterstützungsmöglichkeiten.

Die PISA-Studie ist eine Prüfung.
Sie prüft, was Schülerinnen und Schüler gelernt haben, bevor ihre Schulzeit zu Ende geht.
Sie schaut, ob sie wichtige Dinge wissen und können.
Diese Dinge sind wichtig, um gut in unserer Gesellschaft leben zu können.

Es bedeutet, dass wir mehr Technik nutzen.
Zum Beispiel Computer und das Internet.
Wir nutzen diese Technik in vielen Bereichen.
In der Wirtschaft.
In der Verwaltung.
Und in unserem täglichen Leben.

Manchmal behandeln Menschen andere Menschen schlecht.
Sie behandeln sie schlecht, weil sie sie nicht mögen.
Das kann eine ganze Gruppe von Menschen sein.
Oder nur eine einzelne Person.
Die Leute mögen sie nicht, weil sie anders sind.
Sie denken zum Beispiel, dass sie besser oder schlechter sind.
Oder sie haben Vorurteile.
Das bedeutet, sie haben schon eine Meinung über diese Menschen.
Und diese Meinung ist oft nicht gut.

Literalität bedeutet:
Du kannst gut lesen und schreiben.
Du kannst mit geschriebenen Worten umgehen.
Das ist wichtig für das Leben in der Gesellschaft.
Die Gesellschaft hat Regeln.
Zum Beispiel: Wie man schreibt.
Und was man beim Schreiben beachten muss.
Du kannst diese Regeln gut verstehen und anwenden.

Gering literalisierte Menschen können das nicht so gut.

Manche Menschen können nicht gut lesen und schreiben.

Ein Grund dafür kann sein, dass sie es von ihren Eltern oder Großeltern geerbt haben.
Das nennt man genetische Veranlagung.

Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung 2016–2026. Mit der AlphaDekade setzen sich Bund, Länder und Partner verstärkt dafür ein, die Grundbildung in Deutschland zu verbessern. Dies geschieht über Lernangebote, Öffentlichkeitsarbeit, Forschung, den Ausbau von Unterstützungsstrukturen und weitere Professionalisierung von Lehrenden und Beratenden.

Als Analphabet wird jemand bezeichnet, der nicht lesen und schreiben kann. In Deutschland ist dies sehr selten. Viele Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, können meist Buchstaben und Wörter lesen, haben aber Probleme mit Texten. Auch weil das Wort „Analphabet“ ausgrenzend ist, sprechen wir besser von „gering literalisierten Personen“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

Analphabetismus bedeutet, dass jemand überhaupt nicht lesen und schreiben kann. Dies ist in Deutschland sehr selten. Viele Menschen haben aber große Probleme mit dem Lesen und Schreiben schon von einfachen Texten. Weil das Wort betont, etwas nicht zu können, und damit ausgrenzt, sprechen wir eigentlich lieber von „geringer Literalität“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

Wir haben uns – mit Bauchschmerzen – für die Verwendung des Begriffs auf dieser Website entschieden, da viele Menschen über den Suchbegriff „Analphabetismus“ auf unsere Angebote stoßen und diese nutzen können.

Stigmatisieren bedeutet, jemanden in irgendeiner Weise negativ von anderen abweichend einzustufen und entsprechend zu behandeln.

Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V.

Zweck des Vereins ist es, Erwachsene und Jugendliche, die nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben können, durch ein Angebot an Lese- und Rechtschreibkursen, psychosoziale Beratung und Lernberatung zu unterstützen. Ziel ist die Erweiterung ihrer Kompetenzen im Grundbildungsbereich, um am gesellschaftlichen Leben angemessen teilhaben zu können.

Grund-Bildungs-Zentrum

Es gibt bundesweit verschiedene GBZ. Die GBZ beraten Betroffene und ihre Angehörigen, informieren die Öffentlichkeit über Schriftsprachschwierigkeiten und bauen Netzwerke auf. Viele bieten Lernangebote an. In Berlin gibt es keine Kursangebote.

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