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Kategorie: Themen & Trends

Entweder Barriereabbau oder Kompetenzerweiterung?

Entweder Barriereabbau oder Kompetenzerweiterung?

Sowohl als auch mit dem Alpha-Siegel!

von Theresa Hamilton und Rosalie Joor

Wenn wir alle Barrieren für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten abbauen, haben sie denn dann überhaupt noch den Druck und die Motivation, richtig lesen und schreiben zu lernen?“ Ab und zu begegnet uns diese Frage, wenn wir über das Alpha-Siegel informieren. Im Rahmen des Alpha-Siegel-Prozesses werden Barrieren für Kundinnen und Kunden mit Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Organisationen mit Kundenkontakt systematisch abgebaut. Reicht das, oder ist das eventuell sogar kontraproduktiv?

Wir glauben, dass das eine (der Abbau von Hürden) das andere (die Entscheidung des Individuums, Grundbildung im Erwachsenenalter nachzuholen) nicht ausschließt. Im Gegenteil, Gesellschaft und Individuum müssen aufeinander zugehen, wenn wirklich entscheidende Veränderungen herbeigeführt werden sollen. Das Alpha-Siegel gibt Organisationen und Unternehmen konkrete Aufgaben und Anlässe zur Inklusion der Kundinnen und Kunden mit Lese- und Schreibschwierigkeiten.

Sensibilisierung als erster Schritt

Wie kann das konkret aussehen? Stellen Sie sich vor, Sie besichtigen die neue Kita ihres Kindes, der neue Lebensabschnitt beschäftigt Sie, Sie möchten, dass der Start für Ihr Kind gut klappt. Bei einer solchen Besichtigung werden Ihnen Zettel mit Terminen, Öffnungszeiten, pädagogischen Grundsätzen, Einverständniserklärungen und viel mehr in die Hand gedrückt. Sie schauen sich in den Räumen um und sehen Aushänge, Informationsmaterialien, Listen, in die sich eingetragen wurde. Die Erzieherinnen und Erzieher führen Sie herum, erläutern Konzept und Abläufe. Sie lernen sich kennen, hoffen, dass Ihr Kind sich bei diesen Menschen und in diesen Räumen wohlfühlt. Am Ende stehen Sie mit einer Mappe voller Informationen und vielen neuen Eindrücken vor der Tür. Stellen Sie sich dann vor, dass in dieser Mappe auch Flyer in Einfacher Sprache wären. Stellen Sie sich vor, dass die Listen im Kitaflur mit Piktogrammen ergänzt wären. Stellen Sie sich vor, die Erzieherinnen und Erzieher wüssten, dass jeder achte Mensch nicht ausreichend lesen und schreiben kann. Die Kita wäre ein zugänglicherer Ort für jeden achten Elternteil.

Das Alpha-Siegel kann Hürden senken

Eine solche Kita gibt es in Berlin. Und viele weitere Organisationen, wie Jobcenter, Stadtteilzentren und Beratungseinrichtungen, die sich mit dem Alpha-Siegel auf den Weg gemacht haben, Barrieren zu senken. Jedes Unternehmen, jede Institution kann Verantwortung übernehmen und sich zugänglich machen. Durch sensibilisierte Mitarbeitende, angepasste Materialien und ein Orientierungssystem im Gebäude, das ohne Schriftsprachkenntnisse funktioniert. Nicht nur gering Literalisierte profitieren davon. Auch Menschen mit einer anderen Herkunftssprache oder ältere, sowie seheingeschränkte Menschen haben somit die Möglichkeit, sich besser zurecht zu finden.

Durch das Alpha-Siegel soll ermöglicht werden, dass die bestehenden Strukturen angepasst und in ihren Hürden gesenkt werden, anstatt neue Strukturen zu schaffen. Dies trägt auch insgesamt zu einer Enttabuisierung des Themas bei, da so nicht ausgeschlossen, sondern aktiv für Teilhabe gesorgt wird.

Informieren, ja! – Aber bitte in Einfacher oder Leichter Sprache

Selbstverständlich ist es sinnvoll und förderungswürdig, Menschen bei der Steigerung ihrer Kompetenzen zu unterstützen und Angebote hierfür bereit zu halten. Diese Angebote zu kennen und anzunehmen setzt aber voraus, dass sich barrierearm informiert und gegebenenfalls geoutet werden konnte. Durch den Abbau von Barrieren ist dies möglich. Das Alpha-Siegel schlägt einen Rahmen hierfür vor. Es kann also nicht ein „entweder oder“ sein, sondern ein „sowohl als auch“! Nicht allein das Individuum ist dafür verantwortlich, die Gesellschaft muss ein barrierearmes Angebot zur Verfügung stellen.

In der Kita mit dem Alpha-Siegel erhalten alle Eltern zu Beginn eine Informationsmappe, in der auch Flyer in Einfacher Sprache sind. Ganz selbstverständlich liegt auch ein Flyer des GBZ bei. Die Erzieherinnen und Erzieher erzählen, dass auch sie die Arbeit mit Piktogrammen unterstützen: Statt 15-mal einen Zettel zu schreiben, auf dem „Bitte Windeln mitbringen“ steht, kleben sie ein entsprechendes Piktogramm an die Fächer.

Lebenslanges Lernen als Möglichkeit zur Teilhabe

Betrachtet man eine Kita als einen Ort, an dem Eltern und Personal vertrauensvoll im Sinne des Kindes zusammenarbeiten, wird deutlich, dass sensibilisierte Erzieherinnen und Erzieher eine sehr wichtige Rolle einnehmen und Eltern vielleicht dazu bewegen können, das Lesen und Schreiben zu verbessern. Dann können auch zu Hause Bücher vorgelesen werden.

Also, wir sagen: Nein, wir glauben nicht, dass das Abbauen von Hürden den Leidensdruck der Kundinnen und Kunden so verringert, dass ein nachholendes Lernen nicht mehr notwendig ist. Im Gegenteil, individuelle Steigerung von Kompetenzen wird insofern durch abgebaute Barrieren möglich. Das Alpha-Siegel steht in diesem Beispiel somit für beide Seiten.

Dieser Artikel erschien erstmalig in der Fachzeitschrift ALFA-Forum Nr. 100 (2021)

Grund-Bildungs-Zentrum

Es gibt bundesweit verschiedene GBZ. Die GBZ beraten Betroffene und ihre Angehörigen, informieren die Öffentlichkeit über Schriftsprachschwierigkeiten und bauen Netzwerke auf. Viele bieten Lernangebote an. In Berlin gibt es keine Kursangebote.

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