
Rita Grunow
Lerner-Expertin
„Das Leben ist mit 65 nicht vorbei. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Angebote für ältere Menschen gibt. Lese- und Schreibkurse, Computerkurse. Auch ältere Menschen können helfen.“
- schreibt und malt gerne
- mag Tiere
- unterstützt die Stiftung Grundbildung Berlin seit 2014
- Motto: Lass laufen, es läuft schon irgendwo hin!
Mein Name ist Rita. Ich bin in Berlin geboren, ich bin also eine waschechte Berlinerin. Als junges Menschlein bin ich in die Schule gekommen. Ich konnte bis hundert zählen und meinen Namen schreiben. Aber die Schule ist eine Menschenzerbrechmaschine. Die Lehrer kamen aus dem Krieg. Die hatten mit sich selbst zu tun und dann sollten sie auf einmal bis zu fünfzig Kinder unterrichten. Mich hatten die gleich von Anfang an auf dem Kieker. Ich musste allein sitzen. Der Lehrer, sogar der Rektor, hat einen nassen Schwamm nach mir geworfen. Ich war so erschrocken, ich konnte gar nicht mehr antworten. Wenn du in den ersten Klassen nicht mitkommst, dann bist du raus. Dann verstehst du auch nicht mehr, was die dir später versuchen, beizubringen. Ich war allein, habe keinen Anschluss gefunden, es ging mir immer schlecht. Ich habe Schweißausbrüche bekommen, wenn ich nur daran dachte, rechnen zu müssen.
„Wenn du in den ersten Klassen nicht mitkommst, dann bist du raus. Dann verstehst du auch nicht mehr, was die dir später versuchen, beizubringen.“
Rita Grunow
Auch später nach der Schule habe ich kein Bein auf die Erde gekriegt. Zuerst war ich in einer Fabrik, aber weil ich nicht rechnen konnte, bin ich wieder entlassen worden. Ein Kollege hat mir eine Zeitlang geholfen, aber als der im Urlaub war, musste ich es selbst machen – und das konnte ich nicht. Danach habe ich andere Sachen versucht, aber ich bin immer wieder entlassen worden. Ich bin dann zum Arbeitsamt, ich wollte eine Lehre machen, aber die hatten nichts für mich, außer Rechtsanwaltsgehilfin. Na gut, habe ich das versucht, aber ohne Lesen und Schreiben habe ich das natürlich nicht hinbekommen.


Danach hat mich das Jobcenter in verschiedene Projekte geschickt. Mal 10 Tage hier, mal 10 Tage da. Zum Beispiel war ich im Sozialamt und musste Post zur Poststelle bringen. Dort hatte ich einen Vorgesetzen, der war sehr genau, aber auch sehr freundlich. Dem habe ich erzählt, dass ich nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann und der hat gesagt, „das machen wir schon. Ich erkläre Ihnen das.“ Leider war das die Ausnahme. Ich hatte danach immer wieder mit Menschen zu tun, die mich herabgesetzt haben, die gesagt haben, du kannst nichts, du bist nichts. Dabei stimmte das gar nicht.
Wie ich das trotzdem geschafft habe? Gestützt haben mich meine Mutter, der Chef der Agrarbörse und der Chef der Kostenblattstelle aus dem Sozialamt. Meine Mutter hat immer gesagt, „lass mal laufen, es läuft schon irgendwo hin.“ 1986 habe ich meinen Hauptschulabschluss nachgemacht. Das war ein gutes Gefühl. Endlich hatte ich etwas erreicht! Danach hätte ich gerne eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin gemacht, aber dafür hat mein Abschluss dann wieder nicht gereicht. Hätten die mir nicht einfach beibringen können, was ich wissen muss? Das ist dasselbe Theater wie heute. „Wir brauchen Fachkräfte“, heißt es. Und es gibt Leute, die das machen wollen, aber die werden nicht ausgebildet. Heute denke ich: Nicht ich habe versagt. Die Schule war es, die Gesellschaft, das ganze System. Ich habe mir wirklich die Hacken abgelaufen, um zu lernen.






Letztendlich war es nicht das Arbeitsamt als Institution, das mir geholfen hat. Es waren einzelne Menschen dort und anderswo, die gesagt haben, so kann es nicht weitergehen und die mich unterstützt haben. Als ich zu einem Berufsfeststellungsverfahren nach Ulm geschickt worden bin und dort mit einem Psychiater gesprochen habe, hat der sich wirklich Zeit genommen und verstehen wollen, was mit mir los ist. Was mit mir los ist? Tja, ich habe nicht genug gelernt. Aber ich wollte doch lernen! Der Psychiater hat mir dann auch eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt. Das Jobcenter hat mich danach zu einem Lese- und Schreibkurs an die Volkshochschule geschickt, aber der war wie ein kaputter Plattenspieler, da wurde immer nur das Gleiche erzählt, ohne wirklich auf mich einzugehen. Danach gab es noch mehrere Maßnahmen, wo ich Dinge machen sollte, die ich nicht konnte. Irgendwann war ich bei einer Computer-Firma und sollte Tabellen erstellen. Der Chef hat mich dann zur Seite genommen und gesagt, „das kann ja wohl nicht sein! Ich werde mich jetzt erstmal darum kümmern, dass Sie richtig lesen und schreiben lernen.“ Der hat dann wieder Kontakt zum Jobcenter aufgenommen und die haben mich dann zu Lesen und Schreiben e.V. geschickt. Das war 2013.
Mein erster Gedanke war: „Wo biste denn hier gelandet. Hier fehlt ja die Ordnung!“ Daraufhin haben die Lehrer einiges umgestellt. Ein bisschen gefremdelt habe ich mit den Leuten dort trotzdem, aber es waren tolle Lehrer dort, doch wir waren alle so verjurkst, da ist es schwer sich an das eigene Konzept zu halten. Fünf Jahre war ich dort und alles im allem war es richtig gut. Ich profitiere noch heute von den Sachen, die ich dort gelernt habe. Jetzt lerne ich im Lerncafe in Spandau und komme gut zurecht. Die Lehrerinnen dort fangen uns alle wunderbar ein.
„1986 habe ich meinen Hauptschulabschluss nachgemacht. Das war ein gutes Gefühl. Endlich hatte ich etwas erreicht!“
Rita Grunow
Ich habe meinen alten Chef von der Agarbörse Ost angerufen. Der hatte mir angeboten, mich zu melden, wenn ich Unterstützung brauche. Der hat mir dann einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet. Dort durfte ich recherchieren, was mich interessiert. Ich freue mich an schönen Dingen. Kirchen zum Beispiel. Wunderschön. Oder: Wie funktioniert ein Butterfass? Was für Denkmäler gibt es? Wie funktioniert Landwirtschaft? Solche Geschichten. Ich bin sehr wissbegierig und interessiere mich für Vieles.
Wenn ich nicht gerade erschöpft war, habe ich Klartext geredet. Ich habe immer versucht, offen und ehrlich zu sein. Ich habe viel durchgemacht. Ich bin oft gegen Wände gerannt, abgewertet worden. Gleichzeit hat mir meine Ehrlichkeit geholfen, so bin ich mit Menschen in Kontakt gekommen. Und ich bin neugierig! Ich will wissen, wie Dinge funktionieren. Ich habe Antennen dafür, wenn etwas nicht gut funktioniert und ein gutes Gespür für Ungerechtigkeiten. Ich möchte gerne helfen, dass Dinge besser funktionieren. Nachdem meine eigenen Bedürfnisse oft übersehen wurden, habe ich dennoch ein gutes Gespür, was andere brauchen – und ich versuche zu helfen, wo ich kann.

Seit 2016 engagiere ich mich für die Grundbildung von Menschen. Ich kenne die Wege, die dahin führen, dass man zu wenig Bildung hat, aus eigener Erfahrung. Und ich möchte sie noch besser verstehen, um anderen helfen zu können. Was ich nicht nachvollziehen kann: Es wird so oft über uns gesprochen, aber nicht mit uns. Wir werden überall ausgegrenzt, und selbst wenn es um Grundbildung geht, werden wir oft nicht gefragt. Ich verstehe nicht – warum trampeln so viele auf den Schwachen herum, anstatt zu helfen? Wenn du arm bist, weil du keine Arbeit hast, dann sind die Menschen automatisch misstrauisch. Und weil sie misstrauisch sind, stellen sie dich nicht ein. Ein Teufelskreis. Aber: Wenn sich eine Tür schließt, gehen zwei andere auf. Und jetzt müssen wir an die Öffentlichkeit gehen. Du hast nichts, und dann wird dir auf einmal noch die Sozialhilfe verschleppt. Und du bist schuld? Nein! Was erwarten die denn, wie man dann leben soll? Ich kenne viele, die haben angefangen zu trinken oder zu klauen, aber ich habe das nie gemacht.
„Ich schreibe oft über Tiere, habe auch eine Reihe über „Spinni“. Einiges davon kann man im Infobrief der Stiftung Grundbildung nachlesen.“
Rita Grunow
Die viele schlechten Erfahrungen, die ich gemacht habe und die Erinnerungen daran, haben mich geprägt. Daraus sind dann die Geißeltierchen-Geschichten entstanden. Ob mir das Schreiben guttut? Ich weiß es gar nicht. Ich mache es einfach. Wenn ich eine Situation beobachte, dann schreibe ich sie auf. Manchmal lustig, manchmal sozialkritisch. Ich mache das erst seit 2014. Aber seitdem habe ich echt schon einige Geschichten geschrieben. Ich mache auch mit bei einer Schreibgruppe, wir haben ein Buch veröffentlicht und manchmal lesen wir unsere Geschichten öffentlich vor. Und ich male. Früher hatte ich keine Hobbys. Da war zu viel Stress. Aber seitdem ich vor zehn Jahren angefangen habe, mich auch für mich selbst zu interessieren und den Sachen auf den Grund zu gehen, schreibe und male ich. Wenn ich so darüber nachdenke – das hilft mir schon ein bisschen. Neulich zum Beispiel, da habe ich auf einer Parkbank gesessen, da kam ein kleiner Mistkäfer angelaufen, wunderschön bunt, und ich sage so, „Na, mein Kleiner, wo willst du denn hin?“ Und da habe ich mir gedacht, es wäre nicht schlecht, eine Geschichte darüber zu schreiben. Ich schreibe oft über Tiere, habe auch eine Reihe über „Spinni“. Einiges davon kann man im Infobrief der Stiftung Grundbildung nachlesen. Aber ich schreibe auch Briefe an Politiker und Menschen, die Einfluss haben. Neulich habe ich an Herrn Raiser von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie geschrieben und der hat auch so nett geantwortet.
Ich bin froh, dass ich jetzt offen mit meiner Situation umgehe. Anderen würde ich raten: Lernen, lernen, lernen. Leute, lernt lesen und schreiben und rechnen. Es ist nie zu spät. Und: Ihr seid nicht allein. Sucht euch Gruppen, wo ihr euch wohl und geborgen fühlt. Und nicht erwarten, dass es schnell geht. Es wird ein Weilchen dauern, aber es lohnt sich. Wenn jemand Angst hat? Ich habe gute Erfahrungen gemacht, den Leutchen erstmal eine Geschichte vorzulesen. Und wenn sie dann sagen, „toll“, dann sage ich: „Das kannst du auch.“ Und dann klappt das meistens auch. Wer es allein nicht schafft, sucht sich am besten jemanden, der einen an die Hand nimmt.

Nur wenn man lesen und schreiben kann, wird nicht automatisch alles gut. Aber man findet sich besser zurecht. Es gibt mehr Möglichkeiten, seinen Wissensdurst zu befriedigen. Und mit dem, was man selbst schreibt, kann man wiederrum andere Menschen inspirieren.
Erfolg ist für mich, den Mut nicht zu verlieren und anderen Mut zu machen. Der größte Erfolg ist es für mich, wenn man es schafft, dass jemand Spaß am Lernen hat. Das ist zumindest das, was ich geschafft habe. Mir macht es Freude, zu schreiben. Und ich freue mich, wenn andere sich über mein Geißeltierchen freuen.
Das Leben ist mit 65 nicht vorbei. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Angebote für ältere Menschen gibt. Lese- und Schreibkurse, Computerkurse. Auch ältere Menschen können helfen – zum Beispiel dabei, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
„e.V.“ ist die Abkürzung für „eingetragener Verein“ und bezieht sich auf eine bestimmte Rechtsform für Vereine in Deutschland. Ein eingetragener Verein ist eine Organisation, die sich aus einer Gruppe von Menschen zusammensetzt, die gemeinsame Interessen oder Ziele haben.