Leider gibt es immer noch zu wenig Aufklärung und zu viele Vorurteile über Analphabetismus. Unrichtig ist zum Beispiel: „Wer in der Schule nicht lesen und schreiben gelernt hat, ist einfach zu dumm oder hat nicht aufgepasst!“ Oder: „Analphabeten? Das sind bestimmt alles Migrantinnen und Migranten.“
Die Gründe dafür, dass Menschen in Deutschland Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, können sehr vielfältig sein. Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass Analphabetismus etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun hätte oder die Betroffenen selbst die Schuld an Ihrer Situation trügen. Studien belegen außerdem, dass es sich mehrheitlich um Menschen mit Deutsch als Erstsprache handelt.
„Ich wurde in der Schule nicht ernst genommen, ich sollte immer hinten sitzen, damit ich niemanden störe und etwas ausmalen.
Es hat sich niemand die Mühe gemacht, mir etwas zu erklären.“
Die Abgrenzung von geringer Literalität zu (diagnostizierten) kognitiven Einschränkungen, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie ist auch in Fachkreisen noch ungeklärt, jedoch können letztgenannte Analphabetismus natürlich bedingen. Viel häufiger sind Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen aber auf mehrere ursächliche Faktoren und deren Zusammenwirken zurückzuführen: individuelle, familiäre, schulische und gesellschaftlich-kulturelle. Gerade diese Faktoren sollten uns als Gesellschaft zu denken geben und fordern uns dazu auf zu handeln und Verantwortung zu übernehmen!
- Lesen und Schreiben werden im Elternhaus nicht vorgelebt
- Analphabetismus im Elternhaus
- psychische Belastung durch Konflikte: bspw. missbräuchliches Verhalten der Eltern, Gewalt, Alkoholismus und Drogensucht
- hohe Anzahl an Geschwistern, Vernachlässigung, Heimerfahrungen
- finanzielle Instabilität und Armut
- Überforderung: Eltern erkennen nicht oder zu spät, dass ihre Kinder Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben
„Meine Eltern mussten immer arbeiten, damit wir genug Geld haben. Sie haben im 3-Schicht-System gearbeitet. Wir waren viel allein und mussten auch viel im Haushalt helfen.“
- viele Fehlzeiten aufgrund von Krankheit
- häufige Schulwechsel, bspw. durch mehrere Umzüge
- überlastete Lehrkräfte/häufige Lehrerwechsel
- keine individualisierten pädagogischen Konzepte/mangelnde Förderung
- demotivierende Erfahrungen durch Mobbing, Hänseln, Diskriminierung
„Ich wurde in die Sonderschule geschickt, aber da hat man uns nicht gefördert. Wir sollten immer auf dem Hof spielen. Wenn die mich da besser gefördert hätten, dann wäre alles besser gelaufen.“
- Krankheiten oder neurologische Ursachen, die den frühen Lernprozess unterbrechen
- (unentdeckte) physische Gründe, z. B. Seh- und Hörschwächen
- Legasthenie, Sprachfehler
- fehlende Anwendung und Verlernen vorher erworbener Lese- und Schreibkompetenzen
- aufgrund steigender schriftsprachlicher Anforderungen (bspw. durch Digitalisierung) genügen die bisherigen Kenntnisse nicht mehr
„Ich war als Kind oft krank, hatte viele Fieberkrämpfe und war halt sehr oft im Krankenhaus. Wahrscheinlich ist bei den Fieberkrämpfen irgendetwas in meinem Gehirn passiert, sodass ich halt langsamer geworden bin. Ich war dann auf zwei normalen Schulen und ich habe es [das Lesen und Schreiben] halt nicht gelernt. Ich kam nie mit und die anderen haben mich immer ausgelacht. Sie haben mich ausgeschlossen und es kamen diese blöden Blicke.“
- Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung verstärken die Angst ‚entdeckt‘ zu werden und minimieren die eigene Motivation
- zu wenig Sensibilität in der Gesellschaft für das Thema
- keine ausreichende politische Unterstützung bzw. ungenügende Strukturen, um Veränderungen herbeizuführen
- Migration und Schwierigkeiten mit der Zweitsprache
„Meine Mutter hat mit mir geübt. Ich bin stark traumatisiert davon und musste in Therapie. Ich konnte einfach nicht das, was sie wollte.“
Eine ausführliche und anschauliche Beschreibung von Ursachen für Analphabetismus liefern Marion Döbert und Peter Hubertus in ihrem Buch „Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland.“ S.41ff., das Sie hier als PDF herunterladen können.
Hier finden Sie konkrete Zahlen und Fakten zu gering literalisierten Erwachsenen in Deutschland:
Geringe Literalität ist ein gesamtgesellschaftliches Problem
Die genannten Ursachen bzw. Faktoren von Analphabetismus bedingen häufig eine Verkettung von Folgeproblemen: Durch Diskriminierung geprägte Alltagserfahrungen und die Vermeidung von schriftsprachlichen Situationen führen zu einem sich verstärkenden Negativkreislauf, der die gesellschaftliche Teilhabe von Betroffenen massiv einschränkt und ihr Leben auf allen Ebenen prägt. Die Auswirkungen haben wir auf dieser Seite genauer beschrieben.
Weder sind Menschen selbst schuld daran, dass sie Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, noch sind sie allein in der Pflicht, diesen Zustand zu ändern.
Es ist unsere Pflicht als Gesellschaft für diese vulnerable Gruppe Verantwortung zu übernehmen und damit zu vermeiden, dass die Probleme unüberwindbar werden. Ein offener Umgang und die Enttabuisierung des Themas ist dabei ein erster und wichtiger Schritt. Betroffene müssen das Gefühl haben, ernstgenommen und nicht ‚abgestempelt‘ zu werden.
Was wir tun können: Analphabeten erkennen und helfen
Die Schulungen des Grund-Bildungs-Zentrums Berlin sensibilisieren für Menschen mit Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben
Als Berliner Kompetenzzentrum für Alphabetisierung und Grundbildung arbeiten wir zusammen mit verschiedenen Akteur:innen aus Politik und Gesellschaft daran, dass dem Thema die nötige Aufmerksamkeit zukommt und wirksame Lösungen entwickelt werden. Uns ist wichtig, dass betroffene Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten nicht allein gelassen werden und ihnen ohne Vorurteile und auf Augenhöhe begegnet wird.
Unsere Lösungen:
- Wir bieten kostenlose Sensibilisierungsschulungen zum Thema an.
- Das Alpha-Siegel zeichnet Einrichtungen und Unternehmen aus, die Zugangsbarrieren für Betroffene abbauen.
- Betroffene und ehemalige Betroffene unterstützen uns ehrenamtlich als Expert:innen in eigener Sache bei Schulungen, Begehungen und in der Öffentlichkeitsarbeit. Dabei erfahren sie Selbstwirksamkeit und es entstehen erstaunliche Erfolgsgeschichten.
Was Sie tun können
Sie kennen selbst Personen, die Lese- und Schreibprobleme haben? Informieren Sie sich unter Tipps für Angehörige & Umfeld oder lassen Sie sich von uns beraten!
Es bedeutet, dass wir mehr Technik nutzen.
Zum Beispiel Computer und das Internet.
Wir nutzen diese Technik in vielen Bereichen.
In der Wirtschaft.
In der Verwaltung.
Und in unserem täglichen Leben.
Manchmal behandeln Menschen andere Menschen schlecht.
Sie behandeln sie schlecht, weil sie sie nicht mögen.
Das kann eine ganze Gruppe von Menschen sein.
Oder nur eine einzelne Person.
Die Leute mögen sie nicht, weil sie anders sind.
Sie denken zum Beispiel, dass sie besser oder schlechter sind.
Oder sie haben Vorurteile.
Das bedeutet, sie haben schon eine Meinung über diese Menschen.
Und diese Meinung ist oft nicht gut.
Literalität bedeutet:
Du kannst gut lesen und schreiben.
Du kannst mit geschriebenen Worten umgehen.
Das ist wichtig für das Leben in der Gesellschaft.
Die Gesellschaft hat Regeln.
Zum Beispiel: Wie man schreibt.
Und was man beim Schreiben beachten muss.
Du kannst diese Regeln gut verstehen und anwenden.
Gering literalisierte Menschen können das nicht so gut.
Manche Menschen können nicht gut lesen und schreiben.
Ein Grund dafür kann sein, dass sie es von ihren Eltern oder Großeltern geerbt haben.
Das nennt man genetische Veranlagung.
beziehungsweise
Als Analphabet wird jemand bezeichnet, der nicht lesen und schreiben kann. In Deutschland ist dies sehr selten. Viele Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, können meist Buchstaben und Wörter lesen, haben aber Probleme mit Texten. Auch weil das Wort „Analphabet“ ausgrenzend ist, sprechen wir besser von „gering literalisierten Personen“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.
Analphabetismus bedeutet, dass jemand überhaupt nicht lesen und schreiben kann. Dies ist in Deutschland sehr selten. Viele Menschen haben aber große Probleme mit dem Lesen und Schreiben schon von einfachen Texten. Weil das Wort betont, etwas nicht zu können, und damit ausgrenzt, sprechen wir eigentlich lieber von „geringer Literalität“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.
Wir haben uns – mit Bauchschmerzen – für die Verwendung des Begriffs auf dieser Website entschieden, da viele Menschen über den Suchbegriff „Analphabetismus“ auf unsere Angebote stoßen und diese nutzen können.
Von Stigmatisierung spricht man, wenn eine Person oder eine Personengruppe aufgrund eines bestimmten Merkmals, einer Eigenschaft oder eines Zustandes in negativer Weise von anderen abgegrenzt oder unterschieden wird.
Akteure und Akteurinnen sind handelnde Personen oder Beteiligte an einem bestimmten Geschehen.