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Erfolgsgeschichte Julia Weis„Nutzt Eure Kraft um aus dem Teufelskreis zu entkommen!“

© Foto: Tim-Thilo Fellmer

Julia Weis

Expertin in eigener Sache

„Was ich ändern kann, um die Situation zu verbessern, das mache ich auch. Und ich versuche, mich nicht über Dinge zu ärgern, die ich nicht ändern kann.“

  • arbeitet viel am Computer
  • recherchiert, wandert und bastelt gerne
  • unterstützt das GBZ seit 2022
  • Motto: Ärgere dich über nichts, was du nicht ändern kannst.

Hallo, ich bin Julia. Meine schulische Kariere und Berufsausbildung habe ich in München hinter mich gebracht. Jetzt bin ich fast 20 Jahre aus der Schule raus und wohne seitdem in Berlin.

Warum ich als Erwachsene mit ca. 40 noch mal die Schulbank drücken wollte, hatte zwei Gründe: Zum einen habe ich in meinen 20 Jahren Berufsleben im Theater es nie geschafft, ganz von Hartz IV weg zu kommen. Immer wieder kamen nur befristete Jobs, die oft auch schlecht bezahlt wurden. Ich wollte nicht weiter vor mich hinkrebsen und mich ärgern, dass ich als „dummer“ Hauptschüler gesellschaftlich abgestempelt werde. Zum anderen ist mir aufgefallen, wie schlecht ich lese, als mich mein kleiner Neffe (noch im Kindergarten) fragte, ob ich ihm ein Kinder-Buch vorlesen kann.

Damit war mein Wille geboren die Mittlere Reife nachzuholen und einen Lese-Kurs zu suchen. In meinem Fall spielte mir positiv in die Karten, dass ich das Schreiben zum Glück nie aufgegeben hatte. Nach 20 Jahren Hobby-Tippen mit dem 10-Finger-System und dank des Rechtschreib-Programms war ich in der Lage E-Mails zu schreiben. Dank des Vorlese-Programms auf dem Computer, begann ich nach Hilfe-Angeboten für erwachsene Legastheniker zu recherchieren.

Und der erste Frust kam auf. Denn ich musste leider feststellen, dass sich niemand für erwachsene Legastheniker zuständig fühlt. Aber wenn ich einmal einen festen Plan habe, dann beiße ich mich durch.

„Wenn es allein nicht geht, sucht euch Hilfe. Und dann: schüttelt die Vergangenheit ab und blickt nach vorne. Setzt euch kleine Ziele, die euch motivieren. Und konzentriert euch auf eure individuellen Erfolge!“

Julia Weis

Heute kann ich gar nicht mehr sagen, wie viel ergebnislose Telefonate ich führte, wie viele frustrierende bis unverschämte E-Mails ich erhalten habe. Doch meine Hartnäckigkeit trug letztlich Früchte. Ich habe viele Herausforderungen gemeistert und bin dann, eher durch Zufall, auf den AOB-Berlin gestoßen. Dort hatte ich die Möglichkeit für wenig Geld, das Laut-Lesen in einer kleinen, sehr netten Runde zu üben. Mittlerweile habe ich auch den Realschulabschluss. Es ist schon erschreckend, wie viele Steine mir auf dem Weg zur Mittleren Reife in den Weg gelegt wurden. Und das macht mich echt wütend, wie wenig Unterstützung ich erhalten habe. Dabei sollte der Staat sich doch freuen, wenn man sich auch schulisch weiterbilden will, um endlich auch unabhängig von staatlicher Hilfe zu werden.

© Foto: Tim-Thilo Fellmer
© Foto: Tim-Thilo Fellmer

Die Hoffnung, irgendwann gut lesen zu können, habe ich schon lange aufgegeben, ich glaube dafür ist meine Legasthenie einfach zu schwer. Aber wer weiß, vielleicht stelle ich ja irgendwann fest, dass auch mein Lesen besser wird. Immerhin bin ich heute nach viel Arbeit relativ gut im Schreiben, war ja auch ein zwanzig Jahre andauernder Prozess. Sehr positiv an meinem zweiten Lernweg war allerdings, dass ich durch den Kontakt zu anderen mit Problemen gelernt habe, dass ich mich nicht über meine schulische Bildung definieren muss. Und ich habe festgestellt, dass ich andere durch meine kämpferische Art animieren kann, sich nicht aufzugeben. Wir sind keine Kinder mehr, wir wissen was wir können. Also gebt uns doch auch die Möglichkeit es zu beweisen! Und wenn wir es erst mit ü40 schaffen, dann ist das auch okay!

Im Moment beschäftigt mich sehr das Thema (funktionaler) Analphabetismus und Legasthenie im Erwachsenenalter. Ich engagiere mich für das Thema, weil ich erschrocken bin, wie wenig Hilfe-Angebote es gibt. Dass es so viele Menschen in Deutschland gibt, die die Schule verlassen und das Lesen und Schreiben nie gelernt haben, ist kaum zu glauben. Ich setze mich dafür ein, der breiten Öffentlichkeit die Schwierigkeiten, die viele mit dem Lesen und Schreiben haben, deutlich zu machen. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass die, die damit Probleme haben, nicht dumm sind, nur weil sie verloren vor einem Info-Schild stehen oder nach den Weg fragen. Auch hat nicht jeder seine Brille vergessen, wenn man darum bittet, dass ihm oder ihr etwas vorgelesen wird. Vielleicht ist auch nicht jeder ein Arbeitsverweigerer, nur weil er nicht auf Briefe vom Jobcenter reagiert.

Ich möchte Menschen, die Angst haben oder sich schämen, Mut machen und für sie das Wort ergreifen. Und ich will ganz öffentlich das Bildungs-System anprangern. Sowohl als Jugendlicher aber auch als Erwachsener sind mir so viele Hürden in den Weg gelegt worden! Das muss sich ändern!

Ich würde anderen Betroffenen raten, den IST-Zustand ebenfalls nicht schweigend hinzunehmen. Das jahrzehntelange gut gehütete Schneckenhaus abzuwerfen ist schwer. Die Abwehrhaltung ist dagegen sehr ausgeprägt und hat einem jahrzehntelang das Leben gerettet. Niemand beschäftigt sich gerne mit seinen Schwächen. Doch als Erwachsener weiter den Kopf in den zu Sand stecken, ist halt leider nicht die Lösung. Steckt eure Kraft nicht mehr darein, eure Schwierigkeiten zu verheimlichen, sondern nutzt eure Kraft um aus dem Teufelskreis zu entkommen. Schuldgefühle und Scham bringen euch nicht weiter. Sprecht es aus, zuerst bei Freunden und Familie. Werdet euch bewusst, was in der Schule oder/und im Umfeld schlecht lief. Wenn es allein nicht geht, sucht euch Hilfe. Und dann: schüttelt die Vergangenheit ab und blickt nach vorne. Setzt euch kleine Ziele, die euch motivieren. Und konzentriert euch auf eure individuellen Erfolge!

Wenn ihr es dann schafft einen Kurs zu beginnen, lasst euch nicht entmutigen. Lesen und Schreiben zu lernen, ist ein anstrengender kognitiver Prozess und braucht seine Zeit. Hofft nicht auf zu schnelle Erfolge, wenn sie kommen, ist es schön, wenn es länger dauert, ist es auch okay. Vielen hilft auch der Austausch zu anderen Betroffenen. Denn endlich sind da andere Menschen, die ähnliche Schwierigkeiten haben, die einen wirklich verstehen und einem Kraft geben. Diese Betroffenen können als neues Vorbild dienen.

„Wenn ihr es dann schafft einen Kurs zu beginnen, lasst euch nicht entmutigen. Lesen und Schreiben zu lernen, ist ein anstrengender kognitiver Prozess und braucht seine Zeit!“

Julia Weis

Was ich ändern kann, um die Situation zu verbessern, das mache ich auch. Und ich versuche, mich nicht über Dinge zu ärgern, die ich nicht ändern kann.

Was mir immer wieder geholfen hat, ist das Geschichten erzählen. Ich hatte immer schon Spaß daran, Wissen anzusammeln. Leider lag die Welt des Wissens damals nur offline vor. Heute kann ich Computer nutzen und Vorlese-Programme unterstützen mich. Irgendwann begann ich, eine eigene Phantasie-Geschichte mit historischem Hintergrund zu schreiben. Dazu musste ich dann zwangsweise wissenschaftliche Bücher lesen und beim Schreiben auf dem PC lerne ich so nebenbei auch die Rechtschreibung. Auch wenn das Geschichten-Schreiben heute in den Hintergrund getreten ist, liebe ich immer noch ausgiebige Recherchen und das Zusammenfassen der wichtigsten Informationen. So ist mein Computer voll mit vielen Exel-Dataien. Außerdem erstelle ich riesige Welt-Karten, bastel an Zeittafeln und erstelle mir meine eigenen Nachschlagewerke, die ich gerne mit bearbeiteten, ausgedruckten kleinen Bildern versehe.

Mein derzeitiges Thema sind Haplo-Gruppen und der große Kontinent Asien, von der Alt-Steinzeit bis zum Mongolischen Reich. Gerade zum Thema Haplo-Gruppen, also die DNA-Linien des Homo Sapiens und deren Ausbreitung, würde ich mich gerne mal mit einem Professor unterhalten. Der wohl nicht damit rechnet, das eine Hauptschülerin mit einer handwerklichen Lehre, wahrscheinlich mehr weiß als seine Studenten.

Als Analphabet wird jemand bezeichnet, der nicht lesen und schreiben kann. In Deutschland ist dies sehr selten. Viele Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, können meist Buchstaben und Wörter lesen, haben aber Probleme mit Texten. Auch weil das Wort „Analphabet“ ausgrenzend ist, sprechen wir besser von „gering literalisierten Personen“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

Analphabetismus bedeutet, dass jemand überhaupt nicht lesen und schreiben kann. Dies ist in Deutschland sehr selten. Viele Menschen haben aber große Probleme mit dem Lesen und Schreiben schon von einfachen Texten. Weil das Wort betont, etwas nicht zu können, und damit ausgrenzt, sprechen wir eigentlich lieber von „geringer Literalität“. Viele Betroffene bezeichnen sich allerdings selbst manchmal als Analphabeten, weil der Begriff bekannt ist und nicht erklärt werden muss.

Wir haben uns – mit Bauchschmerzen – für die Verwendung des Begriffs auf dieser Website entschieden, da viele Menschen über den Suchbegriff „Analphabetismus“ auf unsere Angebote stoßen und diese nutzen können.

Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V.

Zweck des Vereins ist es, Erwachsene und Jugendliche, die nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben können, durch ein Angebot an Lese- und Rechtschreibkursen, psychosoziale Beratung und Lernberatung zu unterstützen. Ziel ist die Erweiterung ihrer Kompetenzen im Grundbildungsbereich, um am gesellschaftlichen Leben angemessen teilhaben zu können.

Grund-Bildungs-Zentrum

Es gibt bundesweit verschiedene GBZ. Die GBZ beraten Betroffene und ihre Angehörigen, informieren die Öffentlichkeit über Schriftsprachschwierigkeiten und bauen Netzwerke auf. Viele bieten Lernangebote an. In Berlin gibt es keine Kursangebote.

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